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Sensus communis: Sensus communis oder gesunder Menschenverstand ist die Fähigkeit, auf der Grundlage von Erfahrung und Intuition fundierte Urteile zu fällen. Thomas von Aquin vertrat die Auffassung, dass der sensus communis eine geistige Fähigkeit ist, die es uns ermöglicht, universelle Wahrheiten zu erkennen. John Locke vertrat die Ansicht, dass der sensus communis ein Produkt der Erfahrung ist und eine wesentliche Voraussetzung für fundierte Urteile darstellt.

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Anmerkung: Die obigen Begriffscharakterisierungen verstehen sich weder als Definitionen noch als erschöpfende Problemdarstellungen. Sie sollen lediglich den Zugang zu den unten angefügten Quellen erleichtern. - Lexikon der Argumente.

 
Autor Begriff Zusammenfassung/Zitate Quellen

Friedrich Christoph Oetinger über Sensus communis – Lexikon der Argumente

Gadamer I 32
Sensus communis/Pietismus/Oetinger/Gadamer: [im Deutschland des 18. Jahrhunderts verstand man] unter >sensus communis
lediglich ein theoretisches Vermögen, die theoretische Urteilskraft, die neben das sittliche Bewusstsein (das Gewissen) und den Geschmack trat. So wurde er einer Scholastik der Grundkräfte eingeordnet, deren Kritik dann von Herder geleistet worden ist (...).
Doch gibt es eine bezeichnende Ausnahme: den Pietismus. Nicht nur einem Weltmann wie Shaftesbury musste gegenüber der „Schule“ daran liegen, die Ansprüche der Wissenschaft, d. h. der demonstratio, zu begrenzen und sich auf den sensus communis zu berufen, sondern ebenso dem Prediger, der das Herz seiner Gemeinde erreichen will.
So hat sich der schwäbische Pietist Oetinger ausdrücklich an Shaftesburys Verteidigung des sensus
communis angelehnt. Wir finden für sensus communis geradezu die Übersetzung „Herz“ und die folgende Umschreibung: »Der Sensus communis geht... mit lauter Dingen um, die alle Menschen täglich vor sich sehen, die
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eine ganze Gesellschaft zusammenhalten, die sowohl Wahrheiten und Sätze, als Anstalten und Formen, die Sätze zu fassen, betreffen(...)“(1). Oetingers Anliegen ist dabei, zu zeigen, daß es nicht nur auf die Deutlichkeit der Begriffe ankommt - sie ist »nicht genug zur lebendigen Erkenntnis«.
Vielmehr müssen »gewisse Vorempfindungen und Neigungen« dabei sein. »Die Väter sind ohne Beweis schon gerührt, für ihre Kinder zu sorgen: die Liebe demonstriert nicht, sondern reißt das Herz oft wider die Vernunft gegen den geliebten Vorwurf.«
Gadamer: Oetingers Berufung auf den sensus communis gegen den Rationalismus der „Schule“ ist für uns nun deshalb besonders interessant, weil sie bei ihm in ausdrücklicher hermeneutischer Anwendung begegnet. Dem Prälaten Oetinger geht es um das Verständnis der Heiligen Schrift. Weil hier die mathematisch-demonstrative Methode versagt, verlangt er eine andere, die „generative Methode“ d. h. den »pflanzenden Schriftvortrag, damit die Gerechtigkeit wie ein Gewächs gepflanzt werden könne«. >Sensus communis/Gadamer, >Geisteswissenschaften/Gadamer.
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Offenbar haben auch sonst pietistische Theologen dem herrschenden Rationalismus gegenüber im gleichen Sinne wie Oetinger die applicatio in den Vordergrund gestellt, wie das Beispiel Rambachs lehrt, dessen damals sehr einflussreiche Hermeneutik die Applikation mitbehandelt. Doch ließ die
Zurückdrängung der pietistischen Tendenzen im späteren 18. Jahrhundert die hermeneutische Funktion des sensus communis zu einem bloßen Korrektiv herabsinken: Was dem consensus in Gefühlen, Urteilen und Schlüssen, d. h. dem Sensus communis widerspricht, kann nicht richtig sein(2). Im Vergleich zu der Bedeutung, die Shaftesbury dem Sensus communis für Gesellschaft und Staat zuspricht, zeigt sich in dieser negativen Funktion des Sensus communis die inhaltliche Entleerung und Intellektuierung, die dem Begriff durch die deutsche Aufklärung widerfahren ist. >Urteilskraft/Gadamer.


1. Ich zitiere aus: »Die Wahrheit des sensus communis oder des allgemeinen Sinnes, in
den nach dem Grundtext erklärten Sprüchen und Prediger Salomo oder das beste Haus-
und Sittenbuch für Gelehrte und Ungelehrte« von M. Friedrich Christoph Oetinger (neu
herausgegeben von Ehman, 1861).
2. Ich beziehe mich auf Morus, Hermeneutica, 1, 11, 11, XXIII.

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Zeichenerklärung: Römische Ziffern geben die Quelle an, arabische Ziffern die Seitenzahl. Die entsprechenden Titel sind rechts unter Metadaten angegeben. ((s)…): Kommentar des Einsenders. Übersetzungen: Lexikon der Argumente
Der Hinweis [Begriff/Autor], [Autor1]Vs[Autor2] bzw. [Autor]Vs[Begriff] bzw. "Problem:"/"Lösung", "alt:"/"neu:" und "These:" ist eine Hinzufügung des Lexikons der Argumente.
Oetinger, Friedrich Christoph

Gadamer I
Hans-Georg Gadamer
Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik 7. durchgesehene Auflage Tübingen 1960/2010

Gadamer II
H. G. Gadamer
Die Aktualität des Schönen: Kunst als Spiel, Symbol und Fest Stuttgart 1977

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